Hat die Zivilcourage eines Schul- und Kriegskameraden dazu beigetragen, dass der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff 1938 aus dem KZ entlassen wurde?

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Neues Material aus einem Privatarchiv

Vorgeschichte:

Bei dem genannten Schul- und Kriegskameraden Mierendorffs handelt es sich um meinen Vater, Dr. med., Dr. Ing. e.h. Wilhelm Köhler, * 17. 5. 1897 in Offenbach als Sohn des Geheimen Medizinalrates Dr. med. Wilhelm Köhler und seiner Ehefrau Emma, geb. Weintraud (deren Mutter Jüdin war). Er war bereits seit der gemeinsamen Schulzeit am Ludwig-Georgs-Gymnasium zu Darmstadt mit Carlo Mierendorff und - wenn auch nicht so eng – mit Theo Haubach befreundet. Es existieren Berichte und auch Fotos von gemeinsam unternommenen Radtouren. (In späteren Jahren organisierte Köhler regelmäßig Klassentreffen, zu denen auch Mierendorff und Haubach geladen waren. Der Briefwechsel liegt teilweise noch vor.)

untere Reihe von links nach rechts: Theo Haubach, Carlo Mierendorff, Wilhelm Köhler u. obere Reihe unbekannter KlassenkameradIm August meldeten sie sich freiwillig zum Militär. Mierendorff und Köhler rückten im November 1914 mit dem hessischen Artillerie-Reserve-Bataillon 69 schlecht vorbereitet und schlecht ausgerüstet nach Posen und von da an die Ostfront aus. Auf den eisigen Winter waren sie nicht vorbereitet. Köhler erzählte immer, welch guter Kamerad Mierendorff im gewesen war, beispielsweise, als er an Diarrhoe litt und seine Hände erfroren waren. Da habe Carlo ihm die Hosen runtergelassen, ihn gereinigt und wieder angezogen.

Nach Kriegsende studierte Köhler im Eilverfahren Medizin, er strebte seinem hoch verehrten Vater nach, der jedoch 1917 gestorben war. Nach abgeschlossener Promotion 1922 konnte er keine bezahlte Assistentenstelle finden, das elterliche Vermögen war durch die Inflation verloren gegangen, als Gepäckträger oder dergleichen zu jobben, wie viele seiner jungen Kollegen in ähnlicher Lage es taten, war ihm verwehrt. Er hatte eine Gasvergiftung erlitten, die ein schweres Asthma bronchiale zur Folge hatte.

In dieser Lage bot ihm seine Jugendfreund Willi Goebel, Besitzer und Vorstand der 1851 gegründeten “Gandenbergerschen Maschinenfabrik Georg Goebel” eine Stelle als kaufmännischer Lehrling an. Die Lehrlingsbezüge ermöglichten ihm, zu heiraten und einen bescheidenen Hausstand im Dachgeschoß seines Elternhauses in Darmstadt zu gründen. Bei Goebel machte er schnell Karriere und wurde 1928 als die Familiengesellschaft in eine 

AG umgewandelt wurde, deren Vorstand. Im Jahr 1936 konnte er die Aktienmajorität von Otto Röhm erwerben, der Mittel für die Produktion des bei der Firma Röhm erfundenen Plexiglases brauchte.

Mierendorff war, wie seiner Biographie von Richard Albrecht  (Albrecht, Richard (1987) Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff, 1897.1943. Eine Biografie. Berlin: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH), aber auch der Autobiographie Carl Zuckmayers “Als wärs ein Stück von mir” zu entnehmen ist, ganz andere Wege, nämlich in die Politik, gegangen. Trotzdem blieb, wie der noch vorhandene Briefwechsel zeigt, die Freundschaft zwischen Köhler und Mierendorff erhalten.

In den ersten Monaten des Jahres 1933 nutzte Mierendorff einen Aufenthalt in der Schweiz nicht, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Er folgte einem diesbezüglichen Rat seines Freundes Köhler, mit dem er sich auf der Fahrt nach Frankfurt am Darmstädter Bahnhof heimlich traf, nicht. Er gehöre nun zu seinen Genossen. Er glaubte, Hitler und die Nazis seien nur eine kurze Episode der deutschen Geschichte.

Er wurde gefasst und laut Bericht seines Darmstädter Parteifreundes, des Schulrats Friedrich bei der Fahrt in offenem Wagen durch die Stadt von der SA beinahe gelyncht, hätte der letzte Hessische Staatspräsident Adelung nicht einen anonymen Anruf und auch von seinem Hausmädchen, die zum Einkaufen in der Stadt war, eine entsprechende Botschaft erhalten.  Adelung verständigte seinerseits sofort telefonisch den (NS)Innenminister Frick, er möge dafür sorgen, dass es nicht dazu käme. Ein solches Vorgehen sei doch nicht im Sinne des Deutschen Rechtsstaates. Frick veranlasste, dass die Polizei das Vorhaben der SA verhinderte. Aber Mierendorff kam ins KZ. Von dort gab es gelegentliche Briefe an Freunde, durch die auch Köhler auf dem Laufenden gehalten wurde.

Dieser hatte dank geschickten Taktierens - eine Geschichte für sich - erreicht, einen Ahnenpass zu erhalten und seine jüdische Großmutter bis 1944 vor den Behörden einigermaßen zu verbergen. Er war jedoch strikter Antinazi, die Firma Goebel trug im Volksmund den Spitznamen “Antinazi Musterbetrieb”.

Nach der Besetzung Darmstadts durch die Amerikaner wurde er im Juni 1945 als Präsident der Industrie- und Handelskammer Darmstadt bestätigt. Er weigerte sich als solcher, einen ehemaligen Syndikus wieder einzustellen, weil dieser sich in der NS Zeit als eindeutiger Nazi verhalten habe. Letzterer, mit einigen anderen bewirkte, dass Köhler am 22.4.1948 in einem von diesen und einigen anderen PG´s angezettelten Berufungsverfahren als Hauptschuldiger der Gruppe I von der Spruchkammer Darmstadt angeklagt wurde. Unter denen, die Köhler vor die Spruchkammer brachten, war auch sein Nachbar in Airlenbach im Odenwald, wo er ein Wochenendhaus hatte, welches nach der Ausbombung in Darmstadt bis 1949 das Domizil der Familie wurde.

Auf Grund der mündlichen Verhandlung am 22.4.1948 wurde er jedoch als vom Gesetz nicht betroffen eingestuft.

Die öffentliche Kläger, Bratu, eröffnete sein Plädoyer wie folgt: “Meine Herren Richter! Die Märchenstunde ist zu Ende. Was die Belastung des Betroffenen anbelangt, ist er vom Gesetz nicht betroffen. Gegenstand der heutigen Verhandlung waren verschiedene Anzeigen von ehemaligen PG´s, die sich und ihre Taten scheinbar dadurch etwas ins Dunkle rücken wollten, indem sie den Betriebsführer der Firma Goebel angriffen. Die heutige Beweisaufnahme hat eindeutig ergeben, dass an allem nichts dran ist, speziell an den persönlichen Behauptungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben.

.....

Dass der Zeuge Sch. infolge Verlustes seiner Stellung und Pension auf den Betroffenen, der Kammerpräsident ist, nicht gut zu sprechen ist, ist menschlich verständlich. Unverständlich ist aber, wenn man eine derartige Situation ausnutzt, um einen einwandfreien Mann zu verdächtigen.

...

Bleibt somit, den Betroffenen als ‚nicht betroffen’ wie seither zu erklären. Ich stelle diesen Antrag.”

(Auszug aus der Urteilsbegründung)

Im vorliegenden Fall hat eine Reihe von Nationalsozialisten sich hinter Spruchkammer und Militärregierung gesteckt und hat veranlasst, dass gegen den Betroffenen ein Spruchkammerverfahren eingeleitet ist.”

Soweit die Vorgeschichte.

Der Prozessakte des Spruchkammerverfahrens ist aber auch die Abschrift einer eidesstattlichen Erklärung des Zeugen Dr. e.h. Andreas Klefenz, geb. am 13.09.1875, Vorsitzender der Odenwälder Hartstein Industrie AG beigefügt, die etwas über die möglichen Hintergründe aussagt, warum, wie sein Biograph Richard Albrecht (S. 171) schreibt, Carlo Mierendorff “völlig unerwartet” am zweiten Sonntag im Dezember 1937 nach Berlin gebracht wurde. Aus dem dortigen Gestapo-Gefängnis wurde er am 10.2.1938 entlassen.

Die eidesstattliche Erklärung lautet, wie folgt:

“Anl.2.04

Abschrift

Ich, der Unterzeichnete, Dr. e.h. Andreas Klefenz, geb. am 13.09.75, früher Darmstadt, jetzt Erbach i.O., versichere hierdurch an Eides statt:

Im Jahre 1937 machte ich eine Nordlandreise auf dem Hapag-Schiff Reliance und war erfreut, an Bord Herrn Dr. Köhler, den ich als Rotarier gut kannte, anzutreffen. Auf demselben Schiff reiste auch der Hessische Gauleiter Sprenger mit Frau und Tochter. Sprenger saß an einem Einzeltisch, unmittelbar neben dem Tisch, an dem, neben einer größeren Gesellschaft, auch Dr. Köhler und ich saßen, und es dauerte nicht lange, daß Sprenger uns beide als Hessen anredete. Ich war mehrfach Zeuge von Gesprächen zwischen Sprenger und Dr. Köhler. Einzelheiten daraus habe ich nicht mehr in Erinnerung, doch weiß ich, daß Dr. Köhler häufig davor oder danach äußerte: "Es ist schon recht schwierig, mit einem solchen Partner Konversation zu machen, denn einerseits will ich ja nicht unbedingt nach Rückkehr nach Deutschland ins KZ kommen, und andererseits ebenso unbedingt vermeiden, zum Eintritt in die Partei aufgefordert zu werden."

Eines Tages war in einer solchen Unterhaltung das Thema Schachspiel angeschnitten und für den Abend eine Schachpartie zwischen Sprenger und Dr. Köhler in der Bierstube des Schiffes verabredet. Hier gab es sich nun, daß Dr. Köhler nach beendetem Spiel anfing, Soldatengeschichten zu erzählen, die dann nach einigen Anekdoten immer nur einen einzigen Mann zum Helden hatten. Die Erzählungen waren so, dass sie Sprenger wiederholt zu Beifallsäußerungen für den Helden der Erzählung veranlassten. Im geeigneten Moment sagte dann Dr. Köhler etwa: "Nun will ich Ihnen einmal sagen, daß Sie den Mann, von dem hier die ganze Zeit die Rede ist, recht gut kennen. Es ist nämlich mein alter Freund Carlo Mierendorff. Er sitzt, wie Sie wissen, seit 1933 im KZ und es soll ihm teilweise schon sehr schlecht gegangen sein. Meinen Sie nicht, es wäre jetzt genug und wollen Sie nicht etwas tun, damit er wieder in Freiheit kommt?" Sprengers Miene hatte sich schon beim ersten Nennen des Namens verfinstert. Im weiteren Verlauf des nun folgenden Wortwechsels verzerrte sie sich direkt. Sprenger frug etwa: "Haben Sie denn eine Ahnung, wer Mierendorff überhaupt war?" Dr. Köhler etwa: "Ja, ein aufrechter, gerader, anständiger Charakter, der nun einmal politisch anders dachte, aber auf seine Weise auch das Beste für das deutsche Volk und insbesondere den deutschen Arbeiter wollte." Sprenger: "Nein! Dieser Mann ist ein Mörder!" Dr. Köhler: "Na, das habe ich allerdings noch nie gehört, wieso denn?" - Etwa bei diesem Stadium des Gespräches trat ich Dr. Köhler (für Sprenger unmerklich) auf den Fuß. Ich wollte damit Dr. Köhler warnen, die Sache weiterzutreiben, doch blieb dieser ganz unbeirrt bei seinem Ziel. Sprenger erklärte dann, daß Mierendorff an den "Morden" der HJ-Jungen in Lindenfels Schuld trage. Er habe unmittelbar davor zu diesem Mord aufgehetzt. Dr. Köhler: "Sicher ist Ihnen da etwas Falsches hinterbracht worden. Das paßt so ganz und gar nicht zu dem Charakter des Mierendorff. Aber lassen wir doch nun einmal diese alten Kamellen. Der Mann sitzt nun 5 Jahre, Ihre Partei andererseits hat so gesiegt, daß ein Mierendorff Ihnen doch Machtansprüche gar nicht mehr streitig machen kann. Zwingt ein solches Übergewicht nicht den Sieger zu Edelmut und zum Begraben früheren Hasses?" Sprenger: "Nein, das kommt gar nicht in Frage. Ich habe in letzter Zeit berichtet bekommen, daß es Mierendorff viel zu gut geht. So jemand soll schuften, den ganzen Tag schuften, bis auf die Knie im Wasser stehen und schuften. Das ist das richtige Verfahren." Dr. Köhler sagte bei diesen schon mit größter Heftigkeit hervorgestoßenen Worten (Ich trat Dr. Köhler nun heftig warnend auf den Fuß) etwa: "Na, na, na! Das sind doch wohl Unmenschlichkeiten", worauf Sprenger drohend mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, so daß ein Bierglas umkippte, und verschwand. Das Ereignis wurde an den Nebentischen selbstverständlich bemerkt.

Dr. Köhler und ich schauten uns an, während Dr. Köhler sich mit einer fatalen Bewegung durch den Kragen fuhr und frug: "Was glauben Sie, was nun geschieht?" Ich sagte Dr. Köhler etwa: "Ich habe Sie doch ständig durch mein Fußtreten gewarnt, daß Sie so weit nicht gehen dürfen. Für Mierendorff erreicht haben Sie nichts. Aber wenn wir wieder in Deutschland landen, können Sie eine Verhaftung riskieren." Dr. Köhler sagte mit trotzigem Ausdruck: "Und wenn schon! Dann weiß ich, daß es für eine anständige Sache war."

Erstaunlicherweise begrüßte uns Sprenger jedoch am nächsten Morgen auf der Promenade mit einem freundlichen "Guten Morgen". (Dr. Köhler hatte übrigens zuvor einmal Sprenger gesagt, daß man doch in dem internationalen Milieu des Schiffes den Hitler-Gruß nicht gebrauchen wolle und dies damit begründet, daß man ja unter Umständen komische Lagen gegenüber der Vielzahl der ausländischen Reisenden herbeiführe, und Sprenger hatte diesen Rat überwiegend befolgt und sprach nur über Wetter und Essen.)

Erbach i.O., 20. Dezember 1947, gez. Leferenz

Für die Richtigkeit der Abschrift, handschriftlich unterschrieben

Willfriede Rössig (Sekretärin bei Goebel)

2 Monate nach dem Gespräch wurde Dr. Carlo Mierendorff aus der Haft entlassen.

gez. Dr. Wilhelm Köhler”