Es tut mir leid, dass wir Carlo Mierendorff - anstatt ihn zu befreien - töten mussten.
Diesen Satz veröffentlichte der Herausgeber des britischen New Statesman & Nation, Kingley Martin, Mitte Januar 1944 in seiner Kolumne A London Diary. Diese öffentliche Entschuldigung für einen deutschen Politiker als Opfer einer Air-Force-Brandbombe beim schwersten Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 galt dem damals 46-jährigen sozialdemokratischen Intellektuellen und illegalen Widerstandskämpfer Carlo Mierendorff.
Carlo Mierendorff – am vierten Mittwoch im März im Sternzeichen des Widder am 24. 3. 1897 hineingeboren in eine familiäre Kaufmannswelt, die Eltern sozialliberale kleine Bürger mit musischen Interessen, die Vorfahren väterlicherseits Stralsunder Schnapsbrenner, Händler und Gastwirte, mütterlicherseits sächsische und thüringische Soldaten, Pfarrer und Ärzte. Nach dem Umzug nach Darmstadt Schüler des humanistischen Ludwig-Georg-Gymnasium dort und erste Verbindungen zur Blauen Blume der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg; erste Schreibversuche in einer Dachstube im Freundeskreis, der gleichnamige Blätter schrieb, druckte und verteilte: Die Dachstube.
In diese Idylle platzt der Krieg als das erste große Weltfest des Todes (Thomas Mann). Mierendorff wird ihn bald hassen lernen. Doch zunächst ist Carlo begeisterter Kriegsfreiwilliger eines hessischen Artillerieregiments nach dem Notabitur. Kommiss und Schleiferei im Staub des Kasernenhofs. Im Feld als 17-Jähriger an der Ostfront verwundet, wird Carlo später wieder im Westen eingesetzt. Aber ein Ohr bleibt trotz Tapferkeitsmedaillen nahezu taub.
Den Krieg erfährt Carlo als Grauen. In einem Brief an Darmstädter Freunde schreibt er im dritten Kriegswinter Anfang 1917:
Nicht bloß zuschauen, teilnehmen wolltet ihr an der Grundsteinlegung der neuen Zeit. Der Enthusiasmus der ersten Tage, an sich schön, schwand, an seine Stelle (trat) die einfache Pflicht. Du in Polen hättest selbst nie geglaubt, dass Du solange standhieltest ... Du in Frankreich hast gehofft auf Erlösung von dem Maulwurfsleben in den Gräben mit seiner Eintönigkeit.
Die Literatur hilft auch Carlo, dies zu ertragen und zu überleben. Er veröffentlicht kleinere expressionistische Erzählungen wie zuletzt als Broschüre 1918 Lothringer Herbst, geschrieben in Sätzen, die beanspruchen, für sich allein stehn zu können wie im Schlußsatz der im Juni 1918 veröffentlichten Kurzerzählung Pioppis Sonntagsnachmittag: Er verließ mit einer verächtlichen Gebärde den Schauplatz.
Militärisch geschlagen, demobilisiert, demoralisiert und voller Sympathienfür die bolschewistische Umwälzung im fernen Russland kommt Carlo zurück nach Darmstadt. Er will sich von der neuen Zeit herausfordern lassen, engagiert sich mit der Losung FREUNDE, GREIFT EIN! gegen Militarismus und Krieg. Und will ein neues, demokratisches und republikanisches, ein soziales Deutschland mitgestalten. Die von Carlo herausgegebene Monatszeitschrift Das Tribunal. Hessische radikale Blätter erscheint bis zur Pleite Ende 1920 zwei Jahre lang und soll die alte Welt von Muckern und Spiessern aushebeln helfen. Mierendoffs 1920 gedruckter emphatischer Essay Hätte ich das Kino!! gilt heute noch als bedeutendes kulturradikales Dokument des deutschen Expressionismus. Sein wenige Monate später gedruckter Max-Weber-Nekrolog über diesen Mann mit Unterkiefer hingegen ist vergessen …
In Heidelberg wird studiert und politisiert, geliebt und gelacht, geulkt und gesoffen. Das kurze Studium der Nationalökonomie beendet Carlo als Doktor. Und als Genosse Herr Doktor tritt er nun ein in die Welt der deutschen Sozialdemokratie, der er seit Anfang 1920 als SPD-Mitglied angehört, und ihrer politischen Apparate. Nun wurde Politik auch sein Schicksal und Lebensinhalt:
Nur in der Demokratie kann sich die Massenkraft der organisierten Arbeiterschaft wirtschaftlich und politisch frei entfalten und dadurch den Kapitalismus […] überwinden. Die Arbeiterklasse hat daher ein Lebensinteresse […] am planmäßigen Ausbau des deutschen Staates zu einer sozialen, demokratischen Republik.
Fachreferent im Transportarbeiterverband in Berlin ab 1923, Zweitredakteur der SPD-Tageszeitung Hessischer Volksfreund in Darmstadt 1925, einer der Sekretäre der SPD-Reichstagsfraktion 1926, Rückkehr nach Darmstadt als Pressesprecher des Innenministers Wilhelm Leuschner im Volksstaat Hessen 1929 - das sind Carlos Wegmarken. Und weil ein Älterer nicht mehr will - kandidiert Carlo zum Reichstag. Und wird am 14. September 1930, 33-jährig, als einer der jüngeren Abgeordneten bei diesen Erdrutschwahlen mit der NSDAP als stärkster Fraktion gewählt.
Carlo Mierendorff im Arbeitszimmer (Darmstadt 1931)
Quelle: Albrecht, Der militante Sozialdemokrat (1987: 141)
Es sind in diesen Jahren des Abwehrkampfs gegen den zur Staatsmacht drängenden, sich Nationalsozialismus nennenden deutschen Faschismus 1930 bis 1933 vor allem vier Bereiche, in denen Carlo und nicht selten bis zur körperlichen Erschöpfung wirkt: Erstens theoretisch als sozialwissenschaftlicher Intellektueller, der im Juni 1930 die Dynamik des faschistischen Nationalsozialismus als Massenbewegung erkennt und in einem großen Fachaufsatz untersucht: Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung. Zweitens praktisch als wirkungsvoller Agitator und Redner gegen Naziführer, etwa im Februar 1932 im Reichstag in seiner Auseinandersetzung mit Goebbels. Drittens als Publizist in Enthüllungsveröffentlichungen wie 1931 in Hessen gegen Putsch- und Exekutionspläne von Militaristen und Faschisten ("wird erschossen"). Und viertens als praktischer Organisator, Agitator und Propagandist des militanten Abwehrkampfs im Zeichen Drei Pfeile gegens Hakenkreuz im Rahmen republikanischer Massenorganisationen wie Reichsbanner oder Eiserne Front.
Die verhassten Anderen bleiben Sieger. Und sie vergessen Carlo Mierendorff nicht. Und rächen sich an ihm, der schon im März 1933 einige Wochen im Schweizer Exil lebte und dann doch bewusst zurückkam, um im Untergrund politisch zu arbeiten. Mitte Juni wird Carlo in einem Frankfurter Café festgenommen und triumphalisch nach Darmstadt verbracht, dort öffentlich vorgeführt und ins Konzentrationslager Osthofen verschleppt.
Auch weil aus Genf Telegramme mit Fragen nach seinem Verbleib eintreffen, wird Carlo nicht wie so viele andere auf der Flucht erschossen. Sondern kann überleben. Freundinnen und Freunde helfen ihm in den nun folgenden fünf Jahren politischer Gefangenschaft in den Nazi-KZs Börgermoor, Lichtenburg und Buchenwald. Carlo gibt sich nicht auf, schreibt "auf der Lichte" ein historisches Drama und das Lagerlied, wird schließlich im Spätherbst 1937 auch mithilfe "grüner" Häftlinge vor dem tödlichen Steinbruch bewahrt und kann als Blockschreiber überleben.
Anfang 1938 wird Carlo Mierendorff freigelassen. Nachdem er sich bei Freunden erholen kann versucht Carlo eine neue Existenz als freier Schriftsteller zu begründen, wird Mitglied der Reichsschrifttumskammer und pro forma Lektor im Verlag des Freundes Henry Goverts. Und zunächst hält sich Carlo auch politisch zurück.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wird Mierendorff Angestellter eines rüstungswirtschaftlichen Unternehmens bei Leipzig und Redakteur der BRABAG-Werkszeitung. Nun wird der Schatten der allgegenwärtigen politischen Geheimpolizei GESTAPO kürzer, werden Mierendorffs Handlungsmöglichkeiten grösser: Carlo nimmt Kontakt auf mit seinen alten sozialdemokratischen Genossen in Berlin wie Willem Leuschner und Theo Haubach und in Heidelberg mit Emil Henk. Und Carlo trifft neue Gefährten, lernt etwa den jüngeren Helmuth James Graf v. Moltke und dessen Kreisauer Kreis kennen und schätzen und beginnt eine Doppelexistenz zu leben. Und es ist Carlo Mierendorff, der im Untergrund auch Verbindungen quer zu knüpfen versucht, ungeduldig auf den Sturz der verhassten Nazi und ihrer Führungsclique Hitler, Göring Goebbels und Himmler drängt und der im April/Mai 1943 eine politisch-moralische Perspektive fürs Danach entwirft.
Dieser Programmaufruf zur Sozialistischen Aktion, den ein niederländischer Historiker in den nachgelassenen Moltke-Papieren fand und der auch als Flugblatt nach erfolgreichem Attentat hätte verwendet werden können, mag als Carlo Mierendorffs politisches Vermächtnis gelten. Dort heisst es:
Den Aktionsausschuss bilden Vertreter der christlichen Kräfte, der sozialistischen Bewegung, der kommunistischen Bewegung und der liberalen Kräfte [...] Nie wieder soll das deutsche Volk sich im Parteienstreit verirren! Nie wieder darf die Arbeiterschaft sich im Bruderkampf zerfleischen! Nie wieder Diktatur und Sklaverei! Ein neues Deutschland muss entstehen, worin sich das schaffende Volk sein Leben im Geist wahrer Freiheit selbst ordnet. Der Nationalsozialismus und seine Lügen müssen mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, damit wir die Achtung vor uns selbst zurückgewinnen und der deutsche Name wieder ehrlich wird in der Welt. Das Gebot der Stunde lautet: Fort mit Hitler! Kampf für Gerechtigkeit und Frieden!
Auch dies mag veranschaulichen, warum eine Schweizer Zeitung Anfang 1944 nach Bekanntwerden der Todesumstände über Carlo Mierendorff schrieb:
Dem deutschen Volk wird dieser Mann fehlen. Er wäre berufen gewesen, führend am Aufbau einer freiheitlichen Demokratie mitzuwirken (...) Er verkörperte den Gedanken der sozialistischen Gerechtigkeit, der menschlichen Würde.
Ausgewählte Veröffentlichungen
Gedrucktes Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biografie. J.H.W. Dietz Nachfolger, Berlin-Bonn 1987 [= Internationale Bibliothek 128], 464 p.
Gesendetes Richard Albrecht, „Es tut mir leid, daß wir Mierendorff – anstatt ihn zu befreien – töten mußten“: Carlo Mierendorff zum 90. Geburtstag (Hessischer Rundfunk 19./20.3.1987); Das geschenkte Leben des Carlo Mierendorff: Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Krieg (Deutschlandfunk 20.7.1987); Carlo Mierendorff – Porträt eines Sozialdemokraten (RIAS Berlin 19.12.1988); „Eine Flamme, die noch brennt...?“ Über die Karriere eines politischen Attentats: 20. Juli 1944 (Deutschlandfunk 18.7.1989)
Filmisches Alfred Jungraithmayr, Deckname Dr. Friedrich. Carlo Mierendorff – Leben auf Zeit. Deutschland 1997. Dokumentarfilm, 43´
Erstdruck in: soziologie heute, 7 (2014) 34, S. 28-30.
©Autor (2014)
Richard Albrecht ist Sozialwissenschaftler (Diplom, Promotion, Habilitation) und lebt seit seiner Beurlaubung als Privatdozent (1989) als unabhängiger Wissenschaftsjournalist, Editor und Autor in Bad Münstereifel. 1991 Veröffentlichung des Forschungsansatzes THE UTOPIAN PARADIGM. 1994/97 Redaktionsleiter der Carl-Zuckmayer-Blätter und Herausgeber Theater- und Kulturwissenschaftliche Studien. 2002/07 Herausgeber des Netzmagazins rechtskultur.de. 2005/10 Forschungen zum ARMENOZID als erstem Völkermord im 20. Jahrhundert. 2011 erschien als bisher letzte Buchveröffentlichung des Autors HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. Bio-Bibliographie https://wissenschaftsakademie.net